Lohr, Dieter: Ohne Titel...

Dieter Lohr: Ohne Titel. Aquarell auf Karton. Unsigniert

Landsberg am Lech 2020, ISBN 978-3-9819984-2-9; 32,- €.

 

Hinter diesem rätselhaften Buchtitel verbirgt sich die Lebens- und Leidensgeschichte eines Insassen der Regensburger Heilanstalt Karthaus-Prüll, der als Künstler und Autor bemerkenswerte Werke schuf. Von den Nazis jedoch als Objekt „unwerten Lebens“ abgestempelt, drohte ihm im Dritten Reich die Ermordung. Es handelt sich um Alfred Seidl (18921953), Sohn eines Regensburger Regierungsschulrates. Aufgrund eines Lungenleidens konnte er sein Jurastudium nicht abschließen; wandte sich dann dem Dadaismus und Surrealismus zu und war Mitarbeiter der expressionistischen Zeitschrift „Die Sichel“ in Regensburg. Wegen seines überdrehten Geisteszustands wurde er 1921 erstmals in die Heilanstalt eingeliefert, zwischen 1927 und 1941 dann dauerhaft. Seine dort entstandenen Kunstwerke hat man skrupellos verschachert. Nachdem es der Familie gelungen war, ihn vor dem gewaltsamen Tod zu bewahren, fristete er bis zu seinem Ende ein trostloses Dasein in weiteren Heimen. Ganz anders dagegen verlief die Karriere seines Bruders, des Schriftstellers Florian Seidl (18931972). Dieser stellte sich mit seinen Veröffentlichungen ab 1933 in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie, wobei er unter anderem in seinem Roman „Das harte Ja“ (1941 erschienen) den Euthanasiegedanken bejahte. Der Nazidichter bekam nach dem 2. Weltkrieg - nach einer Stillhaltephase - eine Reihe von Ehrungen zugesprochen. Dabei kam es 1973 sogar zu einer Florian-Seidl-Straße in Regensburg, in der sich makabrerweise auch einige Institute für Behinderte befanden.

 

Anhand von Briefen, Zitaten, öffentlichen Verlautbarungen, Tagebucheinträgen, realen und fiktiven Schriftstücken zeichnet der Autor das Schicksal der Hauptperson vor dem Hintergrund des Zeitgeschehens nach. Er widmet sich dem Thema „entartete Kunst“ und der Rolle der Kunst in der Gesellschaft, bezieht selbst immer wieder Stellung und lässt reale und fiktive Personen aus dem historischen Umfeld und der Gegenwart mit teils erfundenen Äußerungen und Diskussionen zur Sprache kommen. So webt Dieter Lohr rund um die Geschichte des Alfred Seidl einen dichten Stoff aus Tatsachen, Erkenntnissen und Vermutungen. Dieser Reichtum an Perspektiven und Facetten, mit dem es dem Autor gelingt, Person und Leben Alfred Seidls einzufangen, ist für den Leser ungemein spannend und anregend.