Sachliteratur
Das bewegende Schicksal der Lena Christ
Marita A. Panzer vermittelt in ihrer Biografie ein neues Bild der bedeutenden bayerischen Schriftstellerin.
Marita A. Panzer: Lena Christ. Keine „Überflüssige“. Eine dokumentarische Biografie. Reihe “Kleine bayerische Biografien“,
hrsg. v. Thomas Götz, Pustet-Verlag Regensburg 2011, 135 S., zahlreiche SW-Abb., 12,90 €Der Name Lena Christ (1881-1920) steht für ein Leben, das von kurzem Ruhm, größtenteils aber von völliger Missachtung geprägt war, und mit ihrem Freitod am Münchner Waldfriedhof ein Ende voller Verzweiflung nahm. Die Oberbayerin hat in den acht Jahren ihres schriftstellerischen Schaffens zwischen 1911 und 1919 ein Werk hinterlassen, das man heute zu den bayerischen Klassikern zählt. Marita A. Panzer, versierte Biografin berühmter Frauen, widmet sich in ihrer jüngsten Publikation dem Werde- und Untergang von Lena Christ und lässt ihr Schicksal in neuem Licht erscheinen.
Bekannt wurde Lena Christ schon mit ihrem Erstlingserfolg „Erinnerungen einer Überflüssigen“ 1911. Ein Jahr später erschienen als Antwort auf Ludwig Thomas „Lausbubengeschichten“ ihre „Lausdirndlgeschichten“. „Matthias Bichler“, „Die Rumpelhanni“ und „Madam Bäuerin“ (1993 von Franz Xaver Bogner mit prominenter Besetzung verfilmt) waren weitere epische Werke, die sofort das ungeteilte Lob der Literaturkritiker fanden. Man war fasziniert von Lena Christs urwüchsigen Kraft des unmittelbaren Ausdrucks, ihrer lebensechte Milieuschilderung des Landlebens und der hautnahen Vertrautheit mit Sprache, Sitte, Arbeit und Charakter der oberbayerischen Bauern. Ihre unsentimentale Erzählgabe, aus der sich oft ungezwungener Humor entwickelte, war fern von Heimatkitsch, aber voller Mitgefühl und Verständnis für die Vertreter der unteren Bevölkerungsschichten.
Zum wahren Verkaufsschlager wurden ihre Kriegsskizzen, die in drei Bände unter dem Titel „Unser Bayern anno 14/15“, erschienen. Im Gegensatz zur Kriegsliteratur ihrer männlichen Kollegen, die vorwiegend Frontberichte, getragen vom patriotischen Hochgefühl, verfassten, beschrieb Christ die direkten Auswirkungen des I. Weltkrieges auf die Daheimgebliebenen und auf das Leben der Soldaten. Hilfsbereit und gewitzt wie sie war, unterstützte sie in jener Zeit Frauen, zumeist Bäuerinnen, indem sie wortgewandt Urlaubsgesuche für ihre im Felde stehenden Männer verfasste. Ihre Briefe brachten meist den gewünschten Erfolg und wurden mit Naturalien vergolten. Wegen ihrer vaterländischen Verdienste wurde Lena Christ 1915 von König Ludwig III. zum Tee geladen. Wenig später erhielt sie als Anerkennung das König-Ludwigs-Kreuz verliehen.
Das Bild der Schriftstellerin wurde lange Zeit hauptsächlich von zwei Komponenten geprägt: zum einen von den Aussagen in ihrer Schrift „Erinnerungen einer Überflüssigen“, zum anderen von ihrem zweiten Ehemann, der sie als physisch und psychisch Kranke beschrieb, als „primitiv-kindhafte Frau“, deren Erzählkunst triebhaft war und aus dem Unbewussten kam. Marita Panzer kommt zu einer anderen Beurteilung. Sie beweist anhand von Beispielen, dass Lena Christ ihre eigene Biografie literarisch-fiktiv überformte und charakterisiert die Schriftstellerin als kraft- und humorvolle Persönlichkeit, musikalisch und schauspielerisch begabt, und voller sprachlicher Kreativität.
Die Autorin wertete dazu alle greifbaren Dokumente und Archivalien zu Leben und Werk Lena Christs aus, befragte Zeitzeugen und Hinterbliebene. Auf dieser Grundlage beschreibt Panzer ungeschönt das von Krisen geschüttelte Leben dieser Frau, die – unehelich und in ärmlichen Verhältnissen geboren, zudem noch von der Mutter abgelehnt – schon die denkbar schlechtesten Voraussetzungen hatte. Ihr Scheitern im Münchner Wirtshausbetrieb der Mutter, im Kloster Ursberg als Klosterfrau und Musiklehrerin, im Bankrott der ersten Ehe, im Versuch, als allein erziehende Mutter zu überleben (wobei sie sogar Gelegenheitsprostitution in Kauf nahm), erscheinen durch die Schilderung des gesellschaftlichen Umfeldes nachvollziehbar. Ergänzend dazu werden Hintergrund-Informationen geliefert, z.B. über die ländliche Bevölkerung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, die damaligen Verdienstmöglichkeiten für Frauen, die Lebensumstände der Hausmädchen und Köchinnen oder die rechtliche Stellung der Ehefrau, der keinerlei Verfügungsgewalt über ihre Mitgift zustand. Christs Ausbruch aus einer endlich gesicherten Existenz an der Seite ihres zweiten Mannes Peter Benedix, der sie zur Schriftstellerei brachte, beweist die Radikalität, mit der sie Neues wagte. Die darauf folgende, extreme wirtschaftliche Notlage ließ sie straffällig werden; der gerichtlichen Verfolgung entzog sich die 38-Jährige durch ihren Freitod. Peter Benedix, der sie bei dieser Verzweiflungstat aktiv unterstützte, sich später als ihr alleiniger Nachlassverwalter aufspielte und seine Erinnerungen an Lena Christ lukrativ zu vermarkten suchte, erscheint in diesem Zusammenhang als selbstherrlicher Vertreter einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft, an der Lena Christ letztendlich scheiterte. Marita Panzer ist es mit ihrer Biografie gelungen, auf der Grundlage intensiver Quellenforschung eine neue Sichtweise auf die Person und das Schaffen Lena Christs zu vermitteln. Gleichzeitig erhält der Leser hautnahe Einblicke in die Lebensumständen der mittellosen städtischen Bevölkerung Münchens in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.
Dr. Chr. Riedl-Valder, aus: Mittelbayerische Zeitung 17.5.2011